Wie die meisten dachte auch ich beim Thema Essstörungen immer nur an Magersucht und Bulimie; an abgemagerte Menschen, die kaum was essen, sich mit Absicht zum Erbrechen bringen, wenn sie es doch tun, Appetitzügler und Abführmittel nehmen usw. Natürlich ist auch das nur ein kleiner Auszug dessen, was für Formen und Varianten Essstörungen haben können, doch ich hatte mich nie explizit damit befasst, traf es doch auf mich eh nie zu – dachte ich…
Ich hielt mein Essverhalten immer für normal, zudem war ich lange Zeit stark übergewichtig, was für mich ja auch nicht mit meiner Vorstellung von Essstörungen zusammenpasste. Ich hab mein Übergewicht einfach dem zugeschrieben, dass ich mich zu wenig bewegt, nicht sonderlich gesund gegessen und generell zu wenig auf mich geachtet hab. Aber dass ich tatsächlich bereits seit über 15 Jahren an einer richtigen Essstörung leide, war mir all die Jahre nie bewusst.
2009 hatte ich meinen ersten psychischen Absturz. Ca eine Woche lang hab ich gar nichts gegessen und musste mich dann Wochen lang regelrecht dazu zwingen, wenigstens ein bisschen Suppe oder Kartoffelpüree zu essen. Das hatte zur Folge, dass ich innerhalb von einem halben Jahr irgendwas um die 30-35kg abgenommen hatte. Mein Höchstgewicht lag davor bei 99kg.
Natürlich kann man sich denken, dass mir das Gewicht nicht gefehlt hat, hatte ich doch davor schon so oft versucht, abzunehmen, es aber nie geschafft. Jeder Diätversuch ist gescheitert. Ich hab mich so über mich selbst geärgert, dass ich es nicht hinbekomm. Und dann war plötzlich, wie von selbst, so viel Gewicht weg und das hat sich gut angefühlt. Allerdings hatte es nicht lang angehalten.
Ich wollte das halten, wollte darauf achten, nicht wieder zuzunehmen, doch genau das ist sehr schnell passiert. Ich hab gemerkt, wie mein Gewicht wieder nach oben ging, doch obwohl ich mir gesagt hab, das verhindern zu wollen, mich auch im Fitnessstudio angemeldet hab, konnte ich dennoch kaum so schnell schaun, war ich wieder auf dem Gewicht, das ich vorher hatte und sogar wenig mehr – das erste Mal kam ich in den dreistelligen Bereich, hatte 103kg. Ich hab mich so unglaublich mies gefühlt, mir solche Vorwürfe gemacht. Wie konnte ich es soweit kommen lassen?
Die Jahre und zahlreiche weitere Versuche, wieder abzunehmen, vergingen. Ich hab so vieles probiert, bin in meiner Verzweiflung auf diverse Werbeversprechen reingefallen, doch nichts hat funktioniert.
2017 hatte ich einen weiteren psychischen Absturz und dieser verlief wieder sehr ähnlich: ich hab kaum gegessen und das Gewicht wurde wieder immer weniger. Erneut hatte ich innerhalb von ca einem halben Jahr über 30kg weniger. Da kam dann zu meinen ohnehin massiven psychischen Problemen und meiner Instabilität ein weiteres Problem hinzu: ich hatte eine unglaubliche Panik davor, ein weiteres Mal so enorm zuzunehmen.
Ich wurde richtig extrem, hab nicht mehr aus Appetitlosigkeit, sondern beabsichtigt nur wenig gegessen, allein der Gedanke an Essen hat oft schon Übelkeit ausgelöst. Zusätzlich hab ich mich wieder im Fitnessstudio angemeldet und diesmal fast jeden Tag und immer um die 3-4 Stunden trainiert. Ich bin zwar nie tatsächlich umgekippt, hatte aber oft das Gefühl, kurz davor zu sein. Training war für mich erst dann erledigt, wenn ich so fertig war, dass ich die Erschöpfung und Kraftlosigkeit richtig fühlen und grad noch genug Energie für den Heimweg aufbringen konnte. Mir war alles recht um nur bloß nicht mehr fett zu werden.
Da ich generell ein sehr selbstreflektierter Mensch bin, hab ich jedoch recht bald selbst gemerkt, dass das keinesfalls ein Dauerzustand bleiben kann. Also begann ich mich mehr mit Training und vor allem Ernährung auseinanderzusetzen. Ich wollte die letzten paar Kilo möglichst gesund abnehmen, aber vor allem einen Weg finden, mein Gewicht zu halten, ohne zu hungern und mich im Fitnessstudio völlig zu verausgaben, ohne zu wissen, was ich da eigentlich mach.
Die erste große Veränderung war eine sehr deutliche Ernährungsumstellung. Ich bin durch Zufall auf die ketogene Ernährung gestoßen und wie sich gezeigt hat, war und ist das absolut die richtige Ernährungsform für mich. [Es würde jetzt sehr den Rahmen sprengen, nähre auf diese einzugehen, das werd ich dann in einem eigenen Beitrag beizeiten mal machen.] Ich begann mich auch immer mehr mit Physiologie und Nährstoffen zu befassen, und damit, welchen Einfluss Nahrungsmittel auf den Körper und auch die Psyche haben. Man glaubt gar nicht, wie unglaublich viel es ausmacht, was man isst.
Irgendwann – das ist vergleichsweise noch gar nicht so lang her – bin ich dann auch auf die Binge Eating Störung gestoßen; eine Essstörung, von der ich zuvor noch nie gehört oder gelesen hatte. Es war erschreckend, wie sehr die Beschreibung dieser Störung auf mich zutraf. Und zwar schon seit vielen Jahren. Plötzlich ergab auch so vieles aus meiner Vergangenheit einen Sinn. Warum ich es nie geschafft hab, abzunehmen. Wie ich so schnell wieder zunehmen konnte. Ich begann mein gesamtes Essverhalten zu durchleuchten und erkannte, dass ich wohl ein größeres Problem hatte, als mir klar war. Auch in Verbindung mit meiner 2017 erhaltenen Borderline-Diagnose passte das sehr gut zusammen.
Ende 2019 sprach ich mit meiner Psychologin darüber und sie diagnostizierte dann auch tatsächlich diese Essstörung explizit, zusätzlich zu meinen bereits vorhandenen Diagnosen.
Ich hab nach wie vor teils massive Probleme mit meinem Essverhalten. Immer wieder fall ich in diese alten Muster. Immer wieder reißt mich die Essstörung nach unten und macht meine harte Arbeit wieder ein Stück weit zunichte. Doch seit ich mir dieser Störung richtig bewusst bin, schaff ich es, sie halbwegs im Griff zu halten. Mein Gewicht schwankt seit über einem Jahr in einem Bereich zwischen 63kg und 68kg, was für mich ein großer Erfolg ist. Es geht zwar immer mal wieder ein bisschen hoch, wenn ich die Kontrolle verlier, aber dann auch wieder runter, sobald ich sie wiedererlang.
Ich hab schon lang nicht mehr das Gefühl „normal“ essen zu können und bin nicht sicher, ob sich das überhaupt je wieder ändern wird. Mir ist im Moment aber auch nur wichtig, dass ich sie weiterhin in Schach halten kann und versuch mich von Rückschlägen nicht all zu fertig machen zu lassen. Es ist oft gar nicht so leicht, nicht einfach alles hinzuschmeißen, wenn die Zahl auf der Waage wieder mal höher wird. Es ist ein Kampf, jeden Tag aufs Neue, den ich hoffentlich irgendwann auch gewinnen kann.
Natascha Schlachtner | Kali Recovery